Der Eick

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Der Eick


Brennpaste und indigoblaue Schlitze


„Kuck, mal, Papa, ‘n junges Mädchen!“


Der Knirps an Papas Hand zeigte auf eine langhaarige ältere Frau, lebendes Relikt der Spätepoche des Wilhelminischen Kaiserreichs, geboren zu einer Zeit, da Madame Curie die Radioaktivität erforscht und dafür ihren ersten Nobelpreis erhalten hatte. Mit dem Verschwinden der bezeichneten Passantin im Menschengewimmel der Bochumer Kortumstraße löste sich die von dem kleinen Hendrik verursachte peinliche Situation auf.

Frauen, die einerseits ledig und andererseits noch im Vollbesitz ihrer Fortpflanzungsfähigkeit waren und die ein Mann daher umwerben durfte, identifizierte Hendrik an ihrem glatten, mindestens schulterlangen Haar. Über junge Frauen aus der Nachbarschaft wusste er, ob sie frei oder gebunden waren, gleich, ob sie lange Haare hatten oder nicht.

Die Tochter des Firmenpförtners war bei ihren Eltern, unter den Dachschrägen des Sechsparteienhauses, untergebracht, in dem die Eichbrinks eine Seite des ersten Obergeschosses bewohnten. Während sie im perfekten Dress zum Tennisklub schritt, überholte Hendrik sie frech mit einem Tretroller, rechts, über einen Zierrasen. Von Hendriks Kühnheit unbeeindruckt, entschied sie sich für einen Anderen.

Die Tochter des evangelischen Pfarrers von gegenüber überragte Hendrik souverän um einen halben Meter. Hendrik stellte sich vor, wie er sie ins Gebüsch zerrte und dort mit ihr sündigte. Die Pfarrerstochter war alt genug, einen Knirps in kurzer Lederhose aufzuziehen oder bei einer alpenländischen Jause einen volljährigen Jodler abzuschleppen, also nicht auf Fummeleien mit Hendrik angewiesen.

Fern seines Elternhauses traf er auf Mädchen, an denen er, ohne sie zu kennen, das soziale Prekariat witterte. Bei einem tückischen Angriff rissen sie ihm die Trainingshose herunter, und ebenso schnell zog er sie wieder hoch. Als sie ihn packten, um ihn die Böschung hinab zu werfen, in den Gleisgraben einer Werksbahn, wehrte er sich verzweifelt. Es war das erste und letzte Mal, dass Hendrik draußen eine leicht rutschende, nur von einem Gummibund gehaltene Hose trug. 

In Bochum, friedhofsnah, bei Oma und Opa, versammelte sich vielzählig die Verwandtschaft und Angeheiratete, jährlich zu Allerheiligen, an einem ausgezogenen Tisch. Auf Geheiß seiner Mutter krabbelte Hendrik unter den Tisch, um etwas vom Teppich aufzuheben. Die in den halbdunklen Hintergrund eines Rocksaums weisende Kluft zwischen den Oberschenkeln einer Anverwandten offenbarten seinen Augen nichts Genaues. Seiner Nase vermittelte sie den Bratfischgeruch verrottenden Monatsbluts oder, möglicherweise, ranzigen Spermas von Onkel Albert. Dann wurde Hendrik zurückgerufen.

Als der kleine Hendrik keine andere Aufgabe hatte, als die, von seinen Abenteuern unversehrt zu den Mahlzeiten und zum Schlafen heim zu kommen, als sogar seine Einschulung noch in der Zukunft lag, büxte er aus und gelangte in den Sandkasten einer gewissen Antje. Für ihn undurchschaubar, wie und woher, denn er durfte nicht zusehen, konnte sie mit heruntergelassenem Höschen das für den Sandburgenbau erforderliche Speiswasser beschaffen.

Wenn Vicky aus den Arbeiterhäusern mit ihrem Puppenwagen bei Antje im Garten war, spielten die Mädchen mit Hendrik Vater-Mutter-Kind, nicht jedoch, wie aus Mann und Frau Eltern wurden.

Als Hendriks Mutter Antje erwähnte, erschrak die nicht im Verhüten von Mutterschaften, sondern im Austragen und Durchbringen von Kindern in Hungersnöten firme Oma, im Dritten Reich Mutterkreuzträgerin in Bronze, denn sie dachte an das Eine: dass ein uneheliches Kind Leid erzeuge. Hendriks Mutter beruhigte sie: „Das ist harmlos!“

Bevor Hormonrückstände der Anti-Baby-Pille im wiederaufbereiteten Trinkwasser nachweisbar waren und speisefertige Lebensmittel mit Proteinen angereichert wurden, brachte die junge Bundesrepublik selten Jungmädchen mit Riesenmöpsen hervor, die, bedingt durch ihre Eigenlast, nur von einem starken Bustier zu bändigen waren.

Die Mutter von Hendriks Mutter rügte den Besitz großer Brüste, insbesondere bei soeben geschlechtsreifen Mädchen, obwohl sich die stark ausgestatteten Mädchen nicht um große Brüste bemüht hatten. Mit wie vor Irrsinn aufgerissenen Augen empörte sie sich, vor ihrem dunkelgrauen Kittel mit den Händen imaginäre kolossale Brüste wiegend: „Solche Memmen hatte die!“

Hätte Hendriks Oma aus Bochum das Sagen gehabt, wäre allein der Besitz eines außerordentlich entwickelten Busens strafbar gewesen.

Ihrem jüngsten Enkel schenkte sie Glanzbilder mit Heile-Welt-Motiven, die an Renaissance-Fresken erinnerten. Über Schmuddelhefte mit Nacktansichten hätte sich Hendrik mehr gefreut.

In der Metzgerei Borg hingen vor der gekachelten Wand des Verkaufsraums an Haken armlange, lotrechte Würste mit rötlicher Pelle. Bevor Hendrik erste Schriftzüge aufs Papier malen konnte, phantasierte er von Strukturtapeten aus weichen Pimmeln und albinoweißen, länglichen Brüsten. Als Hendrik mit seiner Mutter vom Einkauf bei Metzger Borg zurückkehrte, halluzinierte er von gebratenen Hängebrüsten aus der Pfanne.

Die Katholische Kirche kassierte von Herrn Eichbrink opulente Kirchensteuern. Dennoch war nach einem Wohnungsumzug der Eichbrinks für den kleinen Hendrik an dem neuen Wohnort kein Platz im nahen katholischen Kindergarten frei gewesen. Auch der Einfluss des mächtigen Chemieunternehmens, das hinter Herrn Eichbrink stand, zeitigte keinen Erfolg. Also spielte Hendrik allein oder mit anderen kleinen Jungen.

In einem Zechenhäuschen, kurz bevor es einem siebenstöckigen Wohnklotz zu weichen hatte, wohnten zwei Brüder. Der Ältere ging schon zur Schule, doch der Jüngere und Hendrik brachten beinahe jeden Tag auf dem dahinter gelegenen, großen verwilderten Grundstück zu. Zwei getretene Fußpfade durchquerten die zur Bebauung mit einem Häuserzug ausreichende, von Disteln und Rohrlattich überwucherte Freifläche. Wenn die Jungen durch das Unkraut wateten, schreckten sie mitunter vor riesigen Spinnen zurück. Mit Leibern wie glatte, grüne, ledrige Broschen mit einem schwarzen Kreuz auf dem Rücken, hingen sie mit weit gespreizten Klammerbeinen in ihren senkrechten, weit gespannten Netzen.

Hendrik und sein Tiefbaukollege aus dem Zechenhaus schachteten mit ihren kleinen Spaten an unterschiedlichen Stellen der unbebauten Fläche und bedeckten die entstandenen Gruben mit Brettern und Erdreich.

Abends, zu Hause, in seinem Schrankbett allein, schlief Hendrik nicht ohne ein Quietschhäschen, das er aus Furcht vor der Dunkelheit an die linke Wange drückte, während seine rechte Gesichtshälfte im Kopfkissen geborgen war. Dann sann er von Zeige- und Fühlorgien mit weißhäutigen, fettleibigen, in einem Erdloch kauernden Frauen.

In den Sommermonaten, im Halbdunkel, hinter zugezogenen Vorhängen, ahmte er vor dem Einschlafen ein Trompetensolo nach, Amazing Grace, eine berühmte Melodie. Und hin und wieder versuchte er an seinem Glied zu lutschen. Doch so sehr er sich nach vorn krümmte und den Hals streckte, es gelang ihm nicht.

Sein Vater wollte ihm Spargelgerichte schmackhaft machen. Die Spargelstangen erinnerten Hendrik an sein versteiftes Kinderglied. Spargel zu essen, erschien ihm wie Kannibalismus an einem Verwandten seines beschnittenen Gliedes und mithin an einem Familienangehörigen.

Der Lernanfänger Eichbrink wollte Arzt werden, weil man da, wie er meinte, im Überfluss nackte Frauen sieht. Seine Mutter klärte ihn auf: Nicht Ärzte aller Fachrichtungen sähen ihre Patientinnen nackt.

Mit acht Jahren hielt sich Hendrik spontan, für Momente, für die damals populäre Sängerin Caterina Valente, und aus seinem Mund gellte ihr Erfolgshit „Ganz Paris träumt von der Liebe …“.

Auf dem Schulhof gaukelten ihm überschäumende Phantasien vor, er sei ein zweimotoriges Propellerflugzeug. Dann versuchte er, mit kreisenden Handbewegungen in die Lüfte abzuheben.


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